30 Sekunden zu spät

Kaja Bergmann 30 Sekunden zu spät
„Der 12. September 2015. Ich weiß, dass ich gerade im Seniorenheim stehe. Ich weiß, dass ich meinen Opa besuche. Ich weiß, wer ich bin. Nepomuk. Ich bin Nepomuk. Mein Opa weiß es nicht.
Meine Freundin holt mich ab, Miranda. Wir packen unsere Sachen und fahren los, Richtung Nordsee. Einfach so, von einem Moment auf den anderen, ganz spontan. Ich hasse Spontanität!
Wir kommen in Büsum an, mein Kopf tut weh, immer öfter, immer stärker. Miranda fühlt sich verfolgt, immer öfter, immer stärker. Doch ich nehme sie nicht ernst, bin abgelenkt, suche etwas. Etwas. Etwas stimmt nicht, etwas ist seltsam, was läuft hier falsch? Ich weiß es nicht.
Und dann … Tod. Zu spät. Nur ein wenig, nur 30 Sekunden. Nur 30 Sekunden früher, dann wäre … Vielleicht wäre dann alles anders.“

 

 

 

 

 

 

Damit du nicht verwirrt bist: Es ist ne eigenständige Geschichte, aber sie baut ein bisschen auf dem "Mephisto-Deal" auf. Was nicht heißt, dass man den vorher gelesen haben muss. Aber vielleicht wird dennoch alles ein wenig klarer, wenn man die Figuren schon kennt, weiß, was sie erlebt haben und warum sie so sind, wie sie ... sind. :P

Trailer

Tausend Dank wieder an Deniz für das wunderschöne Lied! :) Und an die vier mindestens genauso wunderschönen Schauspieler. :P

Leseprobe

25. September 2016, 23:06 Uhr

 

Prolog

 

Ich könnte drauf verzichten!

 

Im Nachhinein ist es wohl immer schwierig, zu entscheiden, welche Tage das Leben bestimmen. Einige sagen, es wäre jeder einzelne. Jede Stunde, Minute, Sekunde, jeder verdammte, noch so kleine Augenblick. Obwohl es keine Zeitpunkte gibt. Damals, Grenzwertberechnung, elfte Klasse. Die Erkenntnis ernüchternd: kleine Intervalle. Lassen wir sie gegen Null laufen und bestimmen wir die Steigung. Ich habe nie daran geglaubt.

Ich glaube, es gibt Tage, die einen zwingen, sich in eine scharfe Linkskurve zu legen und eine andere Richtung einzuschlagen. Nur dass man es nicht weiß. Man weiß es nicht, rast in voller Fahrt auf eine unsichtbare Mauer zu, und wenn der Tarnmantel abfällt und man es in letzter Sekunde doch noch bemerkt, ist es längst zu spät.

Übrig bleiben nur Gedanken. Gedanken können in die Vergangenheit wandern, wo Zeit und Ort verschwimmen. Menschen können das nicht.

So glitten meine Gedanken zurück. Durchforsteten das Geschehene und das Geschehen, das, was war, und das, was nun ist. Und sie fanden einen Tag. Einen Tag, an dem alles begann. An dem ich eine andere Richtung einschlug, ohne es zu merken.

Der Name einer Epoche wird immer erst bestimmt, wenn die Epoche vorbei ist. Ich weiß nicht, in welcher ich zurzeit lebe.

Hinterher ist man immer schlauer.

Der Tag war der 10. September.


10. September 2016, 10:34 Uhr


Von weinenden Wolken und falscher Freude

 

… und von einer malträtierten Stimme, die ich allerdings nicht mit in den Kapitelnamen aufgenommen habe, weil sie die Alliterationen zerstört hätte

 

Der 10. September war ein Samstag. Und wie jeder Samstag begann er im Altersheim.

„Frank, wo ist denn Kerstin?“

Ich suchte in den blauen Augen nach einer Spur von Belustigung. Ein bisschen Ironie. Ein bisschen Witz. Doch ich fand nur eine ehrliche Frage. So beschissen ehrlich.

„Zu Hause, ihr geht’s gut“, antwortete ich seufzend und wandte den Blick ab.

„Was ist los, Junge?“

Langsam sah ich wieder nach oben, schaute in das fragende, runzlige Gesicht meines Großvaters und schüttelte den Kopf. „Nichts, Opa.“

„Opa?“ Die wachen Augen blickten irritiert. Wie konnten sie nur so wach erscheinen, so wach und lebendig und jung, als hätte man die Augen eines zehnjährigen Jungen in das Gesicht eines alten Mannes gepflanzt. Sie erzählten von warmen Sommerabenden, grünen Wiesen und Latzhosen. „Warum nennst du mich denn Opa, Junge? So alt bin ich doch noch nicht.“

„Nein, tut mir leid, ich … ich bin heute ein bisschen …“

„Oder ist Kerstin schwanger?“ Ein erwartungsvolles Lächeln gesellte sich zu den wachen Augen, ein Lächeln, das nicht gerne enttäuscht werden wollte. Zum Glück enttäuschte ich nicht gerne. Nichts ist schlimmer, als ein umsonst verschenktes Lächeln.

„Ja, ja, sie ist schwanger“, antwortete ich daher schnell und zwang mich zu einem leisen Lachen. Klang schrecklich. „Es wird ein Junge. Wir wollen ihn Nepomuk nennen.“ Ich hustete und wischte mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, um ihn besser sehen zu können. Immer fielen sie mir vor die Augen. Nahmen mir die Sicht. Trübten meinen Blick. Na ja, besser Haarsträhnen als Demenz, nicht wahr, Opa? Scheiße.

„Was, ihr wisst schon, dass es ein Junge wird? Und jetzt erst sagst du es mir? Ich bin dein Vater, Frank, du hättest es mir schon viel früher sagen müssen.“

„Ja, klar, tut mir leid. Ich … Wir waren uns nur so unsicher, das ist alles …“

„Da siehst du mal, wie lange ich Kerstin nicht mehr gesehen habe! Das nächste Mal bringst du sie mit, versprochen?“

Ich betrachtete das Fenster, den blassblauen Himmel dahinter, an dem ein paar weinende Wolken hingen. Die eine hatte die Form einer Sonne. Merkwürdig.

„Junge, hörst du mir überhaupt zu?“

„Was? Ja, klar, O… Dad.“

„Dad?“ Mein Großvater runzelte die Stirn. „Seit wann nennst du mich denn Dad?“

„Ich … ich weiß nicht. Ist heute ein komischer Tag.“

„Du bist verwirrt, das ist alles.“

Ich musste ein Lachen unterdrücken. Hätte bestimmt auch falsch geklungen. Wie das Weinen der Sonnenwolke.

„Ja, stimmt, ich bin wohl ein bisschen verwirrt.“ Ich.

„Aber das ist doch auch ganz normal, schließlich wirst du Vater! Na, komm schon her, Junge!“

Zögernd stand ich auf, ging die paar Schritte zu meinem Großvater hinüber und ließ mich von ihm umarmen. Er roch nach Kleidung, die zu lange im Schrank gehangen hatte, nach altertümlichem Rasierschaum und nach Freude. Falscher Freude. Was für ein Glück, dass er das nicht wusste.

„Ich bin so stolz auf dich!“

Seine Bartstoppeln kratzten an meiner Wange. Bartstoppeln und Geruch nach Rasierschaum. Eine Mischung, die mir in letzter Zeit immer öfter bei ihm begegnete.

Als er mich wieder losließ, konnte ich ihm nicht in die Augen sehen. Starrte auf den gesprenkelten Boden, zählte die Tropfen zu meinen Füßen. Achtzehn schwarze Tropfen. Und ein durchsichtiger. Ich fuhr mir über die Augen und eine zweite Träne fiel auf das dunkelgraue PVC.

„Aber über den Namen müsst ihr noch mal nachdenken!“

„Was?“

„Der Name. Sonst heißt euer Kind ja wie der Drache aus Jim Knopf.“

Jetzt blickte ich ihn doch wieder an. Noch immer waren seine Augen ehrlich. Vor zwei Wochen waren sie es nicht gewesen. Da hatte er so getan, als hielte er mich für meine Tante Berta. Hatte mich gefragt, warum ich in so seltsamen Klamotten rumlaufe. Kleider ständen mir besser. Und dann hatte er gelacht. Und Halma mit mir gespielt. Ich war schon immer ein mieser Halma-Spieler gewesen.

„Frank? Kennst du etwa Jim Knopf nicht?“

„Äh, doch, klar. Du hast es mir doch früher vorgelesen, weißt du nicht mehr?“

Mein Großvater schüttelte irritiert den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Sicher nicht. Wenn, dann hat ihn dir deine Mutter vorgelesen. Wo ist sie eigentlich?“

„Sie kommt später“, murmelte ich leise.

„Was? Aber wo ist sie denn? Ist sie nicht in der Küche?“

„Ich muss gehen“, sagte ich schnell und hielt meine Stimme fest, damit sie nicht zitterte.

„Frank, was ist denn heute los mit dir?“ Die blauen Augen verwirrt. Verwirrt, enttäuscht und dabei so hinterhältig klar.

„Es tut mir leid.“ Meine Stimme zitterte heftiger, ich spannte sie in einen Schraubstock. Ging auf meinen Großvater zu und umarmte ihn. Wieder. Noch immer muffige Kleidung und Rasierschaum, doch die falsche Freude war fast schon verschwunden.

„Du kannst doch jetzt nicht ...“

„Entschuldige.“ Ich zog den Schraubstock fester an. Es war derselbe, in dem ich früher mit meinem Großvater kleine Schiffe zurechtgesägt hatte. Ich hatte das Holz immer zu fest eingespannt, es hatte Dellen zurückbehalten. Kleine, hässliche Schiffe mit unnötigen Dellen. Mein Großvater war so stolz auf mich gewesen.

„Na gut, ich verstehe ja, wenn du noch einen Termin hast. Aber tritt in Zukunft etwas kürzer, schließlich bekommst du einen Sohn.“

Ich stand schon in der Tür, meine Hand lag unsicher auf dem glänzenden Griff. Hinterließ einen unschönen, dunklen Fleck. Schrieb mit den Fingerkuppen Ich war hier.

„Ja, mach ich“, wisperte ich und zog den Schraubstock noch mal an, meine Stimme stöhnte gequält. Ein dritter Tropfen gesellte sich zu den schwarzen Sprenkeln auf dem Fußboden.

„Du brauchst doch nicht zu weinen, Junge. Es wird das beste Ereignis deines Lebens, das verspreche ich dir. Und bring das nächste Mal Kerstin mit, ja?“

„Versprochen“, flüsterte ich, doch bevor ich den Schraubstock ein letztes Mal anziehen konnte, brach meine Stimme.