Die Traumbinderin

"Hey, ich bin Ella, 18, gerade mit dem Abi fertig und weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Zur Überbrückung wohne ich bei früheren Bekannten meiner Eltern, die sowieso gerade nach einer neuen Babysitterin suchten. Weil die alte verschwunden ist. Und inzwischen vermisst wird.

 

Ich kümmere mich also um den neunjährigen Tim, treffe mich mit Levi, dem FSJler aus dem Kindergarten, und habe Albträume. Immer wieder den gleichen. Und dann ertrinkt die Nachbarstochter …"

 

Trailer

Trailer 2

Welcome to Ödenhausen! :P

Leseprobe 1

Prolog

 

Da ist Blut, so viel Blut fließt auf den Boden, eine rote Pfütze um mich herum. Kalt, so furchtbar kalt, mein Körper, mein Herz, die Menschen, die auf mich herabstarren. Verdrehte Erinnerungen, alles ein einziges unentwirrbares Gedankenknäuel, unentwirrbar wie die Fäden neongrüner Baumwolle, und mittendrin eine Frage: Wo bist du? Ja, genau du. Wo liest du gerade diese Leseprobe? Zu Hause auf der Couch, mit deinem Laptop? Im Zug, auf deinem Handy? Ist es laut dort, wo du bist?

 

Wenn ja, blende die Geräusche ganz aus. Konzentrier dich nur auf meine Worte. Deine Umgebung verschwimmt, die Konturen lösen sich auf in einem weichen Strudel aus Farben und Formen. Die Laute um dich herum werden leiser, eintöniger, du kannst sie nicht mehr voneinander trennen, kannst sie nicht mehr dekodieren, alles ein einziger tiefer Bass. Fühlt sich so ein Schlaganfall an?

 

Und plötzlich ist da Panik. Panik, dass es nie wieder laut wird. Dass du auf ewig gefangen bist in diesem Meer aus endlos gedämpften Tönen und gähnender Langeweile.

 

Fühlst du es? Fühlst du die schleichende Angst?

Genau so ist Ödenhausen.

 

Leseprobe 2

5. Oktober 2016, 13:42 Uhr

 

Ich wusste es, als ich die roten Ränder unter Levis Augen sah. Die nasse Haarsträhne, die in sein Gesicht hing, die triefende Kleidung. Seinen rasselnden Atem hörte. Offenbar war er gerannt.
„Was ist passiert?“, fragte ich ängstlich.
Levi antwortete nicht, stand nur bewegungslos da, den leeren Blick auf die Chrysanthemen zu seinen Füßen gerichtet. Dann drückte er mich plötzlich an sich, zu schnell, zu fest, für einen kurzen Augenblick hatte ich Angst, zu ersticken. Er roch sonderbar, nach einer Mischung aus Algen, Herbstwind und Schweiß. Ich konnte sein Herz schlagen hören, unregelmäßig wie ein betrunkener Drummer ohne Taktgefühl. Es mischte sich mit seinem Zittern, mit Wassertropfen, die von seinen Haaren auf meine Schultern perlten. Platsch, Platsch, Platsch, Tropfen, Herz, Zittern. Mir wurde schwindelig.
„Levi, was ist passiert?“, wiederholte ich eindringlich.
„Mein Handy“, flüsterte er über meine Schulter. „Der Akku ist alle.“ Seine Stimme war ganz ruhig, unberührt vom Zittern seines Körpers. Leer. Leer wie seine Augen, als er auf die Chrysanthemen geblickt hatte. Leer wie sein Handy. „Ich muss telefonieren. Sofort.“
„Klar, aber warum denn?“
„Weil mein Handy nicht geht, hab ich doch eben …“ Er brach ab, atmete tief ein, sein Herzschlag noch immer betrunken, meine Kleidung weichte langsam durch von dem andauernden engen Körperkontakt. Und dann erzählte er. Raue, heisere Worte, direkt an meinem Ohr. Wenn sie doch nur gezittert hätten. „Ich war am Weiher. Erst hab ich sie nicht gesehen. Saß eine ganze Weile da, eine ganze Weile, ich hab meine Füße ins Wasser baumeln lassen. Sie war heute nicht im Kindergarten, aber ich hab mir nichts dabei gedacht, ihre Eltern lassen sie manchmal zu Hause, wenn sie keine Lust hat, und dann vergessen sie anzurufen.“ Er schluckte. „Ließen. Sie ließen sie zu Hause. Wenn sie keine Lust hatte.“
„Marie?“, fragte ich erschrocken. Meine Stimme blieb nicht unberührt vom Zittern seines Körpers.
Levi antwortete nicht, aber ich konnte sein Nicken an meiner Schulter spüren. „Sie hatte einen Schlafanzug an oder so was. Blaue Streifen. Da waren blaue Streifen im Wasser.“
„Ist sie …“ Meine Stimme versagte, doch Levi nickte wieder. Ruckartig diesmal, schmerzlich.
„Was hast du getan?“, fragte ich leise.
Jetzt löste er sich von mir, stand nur ein paar Zentimeter entfernt und sah verzweifelt in meine Augen. „Ich hab sie rausgeholt. Es … ich glaub, es hat ein bisschen gedauert, weil sie so steif war und so schwer, ganz schwer, dabei ist sie doch so klein … Ich hab sie auf den Steg gelegt und versucht, diese komische Herzrhythmusmassage zu machen, sie war ganz blass und ganz kalt und ich wusste, sie war … Aber ich dachte, vielleicht … vielleicht kann ich ja doch noch … Aber es hat nicht funktioniert, natürlich nicht, und dann wollte ich die Polizei rufen. Ich hab mein Handy aus der Tasche geholt, aber das Display ist nicht angegangen und da ist mir eingefallen, dass ich es gestern Nacht nicht aufgeladen hab und man muss die Dinger ja jede Nacht aufladen, sonst … Ich bin dann sofort zurückgerannt und euer Haus ist doch das letzte im Dorf, also das erste, an dem ich … Ich muss telefonieren, ich muss … Hätte ich doch nur dieses blöde Handy …“
„Ist schon gut“, unterbrach ich ihn. „Komm erst mal rein. Wir haben ja ein Telefon, natürlich. Ich … ich mach das.“
Als er in den Flur trat, ertönte hinter mir ein leises Husten. Erschrocken fuhr ich herum. Tim. Er stand auf der untersten Treppenstufe, starrte uns mit weit aufgerissenen Augen an.
„Was“, flüsterte ich entsetzt, „was ist … Hast du gehört, was wir …“
Er drehte sich um und stürmte die Treppe hinauf. Eine Tür schlug zu, ein paar Sekunden später ertönte Musik. Da ist ja Bibi! Sie fliegt auf ihrem Besen! Hallo, Bibi!
Ich führte Levi ins Wohnzimmer und drückte ihn auf die Couch. Er ließ es teilnahmslos über sich ergehen, redete nicht mehr, hatte scheinbar alle Worte verbraucht. War in den letzten Sekunden zum Zombie mutiert. „Warte hier, ich komme gleich wieder.“ Der Zombie reagierte nicht.
Ich lief aus dem Wohnzimmer, lief am Telefon vorbei und ging wieder zurück. Telefon oder Tim, Tim oder Telefon. Schnell Telefon, dann Tim. Aber Tim … Das Fenster stand offen.
Ich ließ das Telefon an der Wand hängen und rannte die Treppe hinauf. Die Tür war nicht verschlossen. Er saß auf dem Bett, die Arme um die Knie geschlungen und fixierte die Wand gegenüber. Sei unser Freund! Bibi Blocksberg!
Der CD-Player stand auf seinem Nachttisch. Ich würgte den unnatürlich elanvollen Sänger mitsamt Kinderchor ab und setzte mich neben Tim. Sah mich in seinem Zimmer um; mir fiel auf, dass ich zum ersten Mal hier war. Blaue Tapeten, ein kleines Bücherregal aus Kiefernholz, passender Schrank, passender Schreibtisch. Links von mir die Tür, die in mein Zimmer führte. Sie und ihre Nachbarin schräg gegenüber waren das einzig Weiße in diesem Raum. Abgesehen von den Schachfiguren auf dem Schreibtisch. Ruhig verharrten die kleinen Gestalten auf ihren Feldern, die Partie war scheinbar gerade erst eröffnet worden. Schätze ich, allerdings habe ich keine Ahnung von Schach.
„Du nervst“, sagte Tim plötzlich.
„Entschuldige.“
„Nein. Du nervst. Das hab ich zu ihr gesagt, gestern. Ich glaub, das war das Letzte, was ich zu ihr gesagt hab.“ Oh, Scheiße.
Er lehnte seinen Kopf an meine Schulter und begann zu schluchzen.
„Das hast du doch nicht so gemeint.“ Ich nahm ihn in die Arme, sah aus dem geöffneten Fenster links neben seinem Bett, stellte mir vor, wie sich darunter der Wilde Wein sanft hin und her wiegte, hin und her, hin und her. Bemerkte erst nach einer Weile, dass ich begonnen hatte, leicht auf dem Bett zu schaukeln. Wollte irgendetwas sagen, irgendetwas wie „Alles wird gut“, aber ich konnte nicht lügen. Dachte an Levi. Levi im Wohnzimmer, Levi auf der Couch, Levi mit dem zombiehaften Blick. Levi allein.
„Es tut mir so leid, aber ich muss nach unten.“ Tim biss sich auf die Unterlippe, zu fest, viel zu fest, ein einzelner Blutstropfen quoll unter seinen Zähnen hervor.
„Komm mit, ja?“
Er schüttelte den Kopf, erst ganz langsam, dann immer schneller.
„Bitte. Ich möchte nicht, dass du hier oben allein bist.“
„Ich will aber allein sein.“
Ich stand auf, schloss das Fenster. „Na gut. Aber wenn irgendwas ist, komm sofort runter, okay?“
Er antwortete nicht, fixierte weiter die Wand. Die arme Wand, wahrscheinlich war ihr in ihrem halbjährigen Wandleben noch nie so viel Aufmerksamkeit geschenkt worden.
„Ich muss jetzt telefonieren, aber ich komme gleich noch mal hoch, ja?“
Er reagierte nicht.
Wie Levi. Levi saß noch immer auf der Couch. Unbewegt. Aus dem Zombie war eine Steinsäule geworden. Granit. Granit ist radioaktiv.
Ich schlich aus dem Wohnzimmer und griff nach dem Telefon.